Von der Zerstörung der geistigen Umwelt

Sind die Nebeneffekte digitaler Medien noch gefährlicher für uns als die globale Umweltzerstörung?

Um unser Wirtschaftssystem und unsere Gesellschaft von Grund auf neu und anders zu gestalten, brauchen wir Bürgerinnen und Bürger, die dieses Wirtschaftssystem nicht als alternativlos begreifen und die gleichzeitig über die notwendigen Informationen und über das nötige Urteilsvermögen verfügen, um Systemänderungen zu diskutieren und umzusetzen. Um an besseren Spielregeln arbeiten zu können, bräuchten wir Medien, die wesentliche und grundlegende Informationen in leicht verständlicher Form aufbereiten. Doch unser Mediensystem bewegt sich eher in die entgegengesetzte Richtung. Die Informationen, die wir erhalten, und die Art, wie wir sie erhalten, verschlechtern sich tendenziell. Die Gründe für diese abnehmende Qualität sind systemimmanent. Das Problem entsteht nämlich genau dort, wo neue Technologien auf den Geist einer ungebremsten „Ich zuerst“-Mentalität treffen.

Durch die Digitalisierung und Vernetzung einerseits und durch den Aufstieg der Sozialen Medien andererseits ist im Bereich der Medien seit einigen Jahrzehnten kein Stein auf dem anderen geblieben. Neue Medien und Formate sind entstanden, die freilich in wirtschaftlicher Hinsicht nicht sehr viel anders funktionieren als ihre Vorgänger: Auch traditionelle Medien wollten immer schon bevorzugt solche Inhalte anbieten, die eine optimale ‚Benutzererfahrung‘ garantierten. Sie orientierten sich immer schon an ihrem Publikum. Zeitungen, Magazine, Radios, Kinos, TV-Stationen und jetzt eben auch Soziale Medien – alle wollten und wollen sie mehr oder weniger immer nur das eine: Reichweite und Erfolg. Der Weg zu diesem Erfolg: Sendungen und Beiträge, die emotionalisieren und starke Gefühle hervorrufen. Die eine aufregende Show und gute Unterhaltung bieten, gewürzt mit Neuigkeiten und Sensationen. 

Digitale und Soziale Medien erfüllen diese Mission allerdings sehr viel besser als ihre nicht-digitalen Vorläufer. Das liegt an einigen wenigen, aber weitreichenden technologischen Innovationen. Digitale Medien können gewaltige Mengen von Daten über ihre Benutzer:innen sammeln, sie können auf Basis dieser Daten sehr genaue Benutzerprofile erstellen und für jeden Einzelnen von uns eine personalisierte ‚Benutzererfahrung’ kreieren. Kurz: Sie liefern uns Informationen, Unterhaltung und Werbung, die optimal auf uns zugeschnitten ist. 

Bevor ich nach Südtirol gegangen war, um Bücher zu schreiben und Filme zu machen, hatte ich zwei Jahrzehnte lang als Softwareentwickler von Webapplikationen gearbeitet. Dabei hatte ich die Erfahrung gemacht, dass manchen meiner Freund:innen und Bekannten nicht klar war, in welchem Ausmaß digitale Plattformen unsere Welt verändert haben. Jeder Klick wird aufgezeichnet. Jedes Wort, jedes Bild und jede Reaktion wird gespeichert. Facebook beispielweise sammelt Daten über alle Personen, Seiten, Konten, Hashtags und Gruppen, mit denen Benutzer:innen interagieren, speichert aber auch sämtliche Inhalte und erfasst alle Arten von Interaktionen (z.B. Liken, Teilen, Kommentieren). Gesammelt werden darüber hinaus Informationen über die Geräte, die für den Zugriff auf Facebook verwendet werden, deren Betriebssystem, Hardware- und Software-Versionen, Batterieleistung und Signalstärke. 

Dieser gewaltige Datenpool ermöglich die Erstellung von Psychogrammen, auf deren Basis man das Benutzerverhalten einer Person besser vorhersagen kann, als Freund:innen oder Familie das könnten. Man weiß daher auch ganz genau, wie man Nutzer:innen ansprechen muss, um ganz bestimmte Resultate zu erzielen, um sie zu manipulieren. Dabei kommt bereits Künstliche Intelligenz zum Einsatz, sowohl bei der Verarbeitung der Datenspuren als auch bei der Entwicklung ‚optimal-individualisierter‘ Inhalte.

Soziale Medien sind bereits heute ausgesprochen gut darin, ihre Inhalte an die Vorlieben von Benutzer:innen anzupassen – und sie werden immer besser. Deshalb ist es kein Wunder, dass viele Benutzer:innen die Angebote ihrer Plattformen lieben. Ständig greifen sie zu ihren Smartphones und starren in ihre Bildschirme. 

Was für Social-Media-Plattformen und digitalen Medien ein großer Erfolg und die Grundlage ihres Geschäftsmodells ist, führt für die Gesamtgesellschaft zu einer Reihe negativer Nebeneffekte. Diese Effekte sind im Einzelnen nicht neu. Doch bei der Nutzung digitaler Medien überschreitet ihre Intensität und Wechselwirkung möglicherweise einen Kipppunkt, eine kritische Belastungsgrenze. Keine natürliche oder planetare, aber eine psychische und soziale. 

Da praktisch alle sozialen und digitale Medien größtenteils durch Werbung finanziert werden, sollen deren Benutzer:innen nicht nur möglichst lange auf ihre Bildschirme starren, sondern auch möglichst oft auf Werbeeinschaltungen klicken. Je öfter kaufbereite Medienkonsumenten auf die Websites der Werbetreibenden gelenkt werden und dort einkaufen, umso wertvoller die Werbefläche. Die Betreiber der Sozialen Medien arbeiten also nicht nur auf eine möglichst lange Verweildauer auf ihren Plattformen hin, sondern auch auf möglichst häufige Kaufvorgänge. Die Verstärkung von Unterhaltungs- und Konsumsucht ist, wenn man so will, ihre Mission.

Damit Nachrichten in diesen Medien überhaupt noch wahrgenommen werden, müssen sie immer kürzer, immer dramatischer, immer sensationeller, immer aufregender, immer knalliger werden. (Das gilt übrigens nicht nur für digitale Medien, sondern – in deren Sog – auch für traditionelle Medien.) Die meisten Produzenten von Inhalten sind daher dazu übergegangen, diese Inhalte in kleine, leicht verdauliche Stücke zu zerlegen. Sie sollen kurz und prägnant sein und mit starken visuellen Elementen versehen, um die Aufmerksamkeit der Leser zu fesseln und sie zur Interaktion zu bewegen. Benutzer:innen, die sich an diese Art von Informationen gewöhnen, können längere, zusammenhängende, differenziertere Nachrichten oft kaum noch verstehen. Ihre Aufmerksamkeitsspanne nimmt ab. Sie merken sich weniger und wissen weniger. Differenzierte Argumentationsgänge lernen sie selten kennen. Darüber hinaus gibt es Studien, die nahelegen, dass der andauernde Themenwechsel auch das Lernen und Erinnern behindert. 

Das alles wäre schon schlimm genug. Doch leider gibt es darüber hinaus noch zahlreiche empirische Befunde, die nahelegen, dass sich falsche Nachrichten („Fake News“) in Sozialen Netzen schneller verbreiten als wahre Nachrichten. Falsche Nachrichten können von Anfang an so gestaltet werden, dass sie optimal ‚funktionieren‘, ohne dass man auf deren Wahrheitsgehalt Rücksicht nehmen müsste. Weil solche Falschnachrichten danach tatsächlich häufiger geteilt werden als andere, erscheinen sie den Algorithmen der Social-Media-Plattformen als besonders ‚erfolgreich‘ und werden daher bevorzugt präsentiert. Sie verbreiten sich in der Folge wie von selbst.

Die Algorithmen der Sozialen Medien bevorzugen alles, was gut funktioniert –unabhängig davon, ob es stimmt oder nicht. Und sie wählen aus, was dich, als  Anwender:in dieser Plattformen, am besten anspricht. Was dich auf der Plattform hält. Was dich bestätigt oder empört. Was starke Emotionen auslöst und dir ein optimales ‚Benutzererlebnis‘ garantiert. 

Persönliche Vorurteile und Gruppenvorurteile werden dadurch verstärkt und verursachen eine weitere fatale Nebenwirkung. Die systematische Polarisierung der Gesellschaft und ein wachsendes Unverständnis für die Welt des jeweils anderen. Diese Entwicklung birgt große Gefahren für den Zusammenhalt von Gesellschaften. Falschinformationen, Echokammern und Filterblasen in Sozialen Medien haben tatsächlich das Potenzial, demokratische Prozesse zu beeinträchtigen und zu untergraben. 

Zu den weiteren unerfreulichen ‚Nebenwirkungen‘ dieser systematischen Verstärkung und Bestätigung der eigenen Ansichten im Inneren der Echokammern zahlen auch Hassgefühle gegen Andersdenkende. Sie stauen sich auf und entladen sich schließlich in sogenannter ‚Hassrede‘. Verstärkt wird diese Tendenz zur hasserfüllten Rede dadurch, dass im virtuellen Raum zahlreiche Informationen über den Gesprächspartner fehlen, die bei einer realen Begegnung helfen, das eigene Gegenüber einzuschätzen, als Menschen wahrzunehmen und zu respektieren. Dieses Fehlen von Kontexten und nützlichen Informationen trägt zu Missverständnissen bei und zu Auseinandersetzungen, die durch den Zwang zur Kürze noch einmal verstärkt werden. Am Ende gehen wir alle ohne jegliche ‚Beißhemmung‘ aufeinander los.

Digitale und soziale Medien erzeugen aber nicht nur zahlreiche Nebenwirkungen und Kollateralschäden. Wie alle vom Menschen geschaffenen Technologien bergen sie auch die Gefahr, sich in Werkzeuge der Gewalt und Unterdrückung zu verwandeln. All die gesammelten Daten können in den falschen Händen zur datenbasierten Manipulation auf der Basis von KI genutzt werden, zur Verfolgung Andersdenkender und zur Ausschaltung jeder Kritik oder Opposition. Der „gläserne Mensch“ ist der Wunschtraum aller autoritären Regime.

Bei meinen eigenen Kindern und in ihrem Freundeskreis konnte ich beobachten, wie sich das schleichende Gift der Sozialen Medien in den Köpfen ausbreitete und wie die Sucht nach optimaler Unterhaltung von Woche zu Woche und von Monat zu Monat zunahm. Doch nicht nur Kinder und Jugendliche verbringen immer größere Teile ihres Lebens vor Bildschirmen. Eine durchschnittliche Smartphone-Benutzerin entsperrt das eigene Handy 150-mal am Tag und berührt es 2.617-mal. Smartphone-Benutzer verbringen durchschnittlich 2 Stunden und 51 Minuten pro Tag mit ihren Smartphones und weniger als 45 Minuten mit ihren Familien.

Ein Kernprinzip der Demokratie ist eine gut informierte Wählerschaft, die in der Lage ist, fundierte Entscheidungen zu treffen. Wenn Fehlinformationen und Polarisierung in den Sozialen Medien zunehmen, wird das Verständnis der Bürgerinnen und Bürger für wichtige Themen beeinträchtigt oder zerstört. Es ist schwer vorstellbar, wie sich ohne funktionierende Medien jemals Mehrheiten für vernunftbasierte und entschlossene Reaktionen auf unsere aktuellen Probleme bilden sollten.

Soziale und digitale Medien erschweren sinnvolle Diskurse nicht nur, sondern sie zerstören sie systematisch. Mit all ihren Nebenwirkungen tragen sie in hohem Ausmaß zur Aussichtslosigkeit unserer Situation bei. Die Zerstörung des Forums, des Ortes also, an dem wir Ideen austauschen und gemeinsam nach besseren Lösungen suchen sollten, ist der letzte Sargnagel, der in den Deckel jenes Sarges geklopft wird, in dem wir unsere Zukunft beerdigen.

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